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Donnerstag, Juli 05, 2012

Sind bewahrenswerte Ortsbilder out?

"Rund 49 Prozent aller Wohnungen im Kreis Ludwigslust-Parchim stammen aus der Zeit vor 1970 - viele sogar aus den Nachkriegsjahren. Lediglich jede vierte Wohnung sei nach der Wende neu gebaut worden", berichtet die SVZ vom 3.7.2012 unter bezug auf eine Studie des Pestel-Institutes Hannover. Die Studie empfiehlt, den " Mietwohnungsneubau anzukurbeln. Dazu gehörten auch der Abriss und der anschließende Neubau (Ersatzneubau) von leer stehenden Wohnhäusern in guten Innenstadtlagen".

In Auftrag gegeben haben die bundesweite Studie "führende Verbände der Bau- und Immobilienbranche... Dazu gehören der Deutsche Mieterbund und die IG Bauen-Agar-Umwelt ebenso wie der Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel und die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau."

Bei solchen Auftraggebern spielt der Wert intakter Altstädte, wie sie vielerorts noch in Mecklenburg-Vorpommern und damit auch in der Warnowregion zu finden sind (z.B. in Goldberg, Sternberg, Bruel, Warin, Bützow, Krakow) offenbar keine Rolle. Dabei sind Ortsbilder ganz wichtige Identitätsanker für uns Einheimische! Sollen wir den Heimatbezug wirklich den ganz Rechten überlassen? Oder müßten angesichts der Prestel-Studie, deren Schlußfolgerungen und Forderungen allen Bundestagsabgeordneten übermittelt wurden, sich nicht engagierte Vereine und Verbände zu Wort melden? Ich denke da beispielsweise an den Landesheimatverein, der Landeskulturbund, aber auch an die Landesarchitektenkammer und an die deutsche Sektion des europäischen Verbandes ECOVAST, der sich für die Kleinstädte und die ländlichen Räume engagiert.

Zwei Leserbriefe zum SVZ-Artikel, den wir gespiegelt haben, bringen die kritische Sicht auf die Studie wohl auf den Punkt:

HEIKO HEIMLICH 04.07.2012 11:16

"Zu alt"

"Zu alt" sind in diesen Zeiten nicht nur Gebäude, sondern auch rentenbeanspruchende Menschen, vor allem dann, wenn sie beispielsweise noch im hohen Alter ein künstliches Hüftgelenk bekommen sollen. Das mit den Menschen wussten wir dank entsprechender Äußerungen (junger!) Bundespolitiker schon, das mit den Gebäuden erfahren wir dank des Pestel-Institutes (wer ist das eigentlich, wessen Interessen werden vertreten?). Zum Teufel mit den historischen Ortbildern, wir brauchen gesichtslose Neubauten! Wenn beispielsweise in Sternberg alte Häuser saniert werden und danach gerne von (jungen!) Sternbergern bezogen werden, spricht das offenbar nur dafür, dass man dort hoffnungslos altmodisch ist. Wir brauchen auch hierzulande Immobilienblasen ohne Ende - schließlich ist Spanien Fußballweltmeister geworden!

WILLEM JOSS 04.07.2012 19:12

Ganz berechtigt, @Heiko Heimlich, ist es

nach den Interessen zu fragen, die hinter solchen Untersuchungsergebnissen stehen.

Das Prestel-Institut erstellte diese Studie im Auftrag des BFW Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen, der Deutsche Gesellschaft für Mauerwerksbau (DGfM) und des Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB).

Das Prestel-Institut ist generell sehr wirtschaftsnah, sein Gründer aktives Mitglied der CDU. Zu den Kooperationspartnern gehören Firmen wie STOLPUNDFRIENDS und das Netzwerk für die Wohnungswirtschaft.

„Ich kenne meine Pappenheimer“, hat schon Schiller festgestellt.

Hier sollen der Bau- und Immobilienwirtschaft Aufträge vermittelt werden und die öffentliche Hand, d.h. alle Steuerzahler, soll das finanzieren.

Wer mehr über das Prestel-Institut erfahren möchte, findet ein wenig auf dessen Webseite. Es ist eine kleine Einrichtung mit ganzen 6 (sechs) (wissenschaftlichen) Mitarbeitern. Als Kooperationspartner nennt das Institut u.a. das "vernetzte Immobilienmarketing" StolpeundFriends sowie das Netzwerk für die Wohnungswirtschaft. Durch diese und andere Partner dürften sich auch erklären, wie ein 6-Personen-Institut eine bundesweite Studie mit so viel statischen Daten anfertigen konnte...

Nebenbei: Es gibt eine Einrichtung, die frei von wirtschaftlichen Interessen ist und Aussagen zum Thema Wohnungsbestand und Wohnungswirtschaft sehr unparteiisch treffen kann: Das ist das DIFU Deutsches Institut für Urbanistik. Es ist als größtes Stadtforschungsinstitut im deutschsprachigen Raum die Forschungs-, Fortbildungs- und Informationseinrichtung für Städte, Gemeinden, Landkreise, Kommunalverbände und Planungsgemeinschaften. Andes als sein Name vermuten läßt, gehören auch die Kleinstädte und der ländliche Raum zu seinem Handlungsbereich. Wer kommunale Sachinformationen sucht, wird hier fast immer fündig: http://www.difu.de

Zum Abschluss eine historische Remineszenz, die uns mehr über historische Bauten vermitteln kann als lange Abhandlungen: 1912 besuchte Franz Kafka Halberstadt und notierte:

"Eine ganz und gar alte Stadt. Fachwerkbau scheint die für die größere Dauer berechnete Bauart zu sein. Die Balken verbiegen sich überall, die Füllung sinkt ein oder baucht sich aus, das Ganze bleibt und fällt höchstens mit der Zeit ein wenig zusammen und wird dadurch noch fester. So schön habe ich Menschen in den Fenstern noch nicht lehnen sehen."

Posted by Dr. Günter Hering at 15:08
Edited on: Donnerstag, Juli 05, 2012 16:16
Categories: Architektur, Kommunales